Der Chaoshaufen
Ungläubig starrte sie durch einen verschmierten Tränenschleier auf die Scheiße zu ihren Füßen. In einer Nanosekunde dunkelroter Wut hatte sie die Schublade, die irgendwie klemmte, mit einer solchen Wucht aufreißen wollen, dass das gesamte Ding unter einem kurzen Knacken, das sich wie ein mehrfacher Knochenbruch anhörte, aus den Angeln gehoben und kopfüber auf ihrem gesamten Inhalt auf Maries Granitsteinboden, Typ „Azul Platino“ gelandet war. Wie war das überhaupt möglich? So rein kräftemäßig? Sie hob die malträtierte Schublade hoch und legte sie auf den Küchentisch. Ihr Inhalt lag nun einfach da, wie eine grobe Provokation, die ihren makellosen Küchenboden befleckte.
Was war zu tun? Den Chaoshaufen einfach so liegen lassen, das ging nicht, ihre Eltern würden nach der Veranstaltung noch auf ein Glas Sekt vorbeikommen, das ging wirklich nicht. Sie schniefte Rotze hoch, durch das Weinen hatte sich eine Spannung in ihrem Kopf gebildet, die nun schmerzhaft gegen ihre Stirn pochte.
Die Schublade lag dort – von innen nach außen wie nackte Organe, ihr kleinstädtisches, kleinmädchenhaftes, zartes Inneres, demütigend entblößt, ohne Haut und ohne Schutz.
Was davor geschah:
Samstag, 18:19 Uhr. Eine Uhrzeit, die in Maries Fall keine Entschuldigung zuließ. Sie war spät dran und alles war schlimm. Die Heulerei hatte ihr auch das Gehirn verschmiert und sie konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen, die sonst automatischen Handbewegungen mit Pinsel und Tusche funktionierten nicht, die Haare flogen, die Kopfhaut spannte, sie fühlte sich unwohl in dem enganliegenden Kleid und in ihrer eigenen Haut. Verbissen hatte sie die sich im Spiegelbild angeschaut, jetzt noch kurz durchhalten, diese eine Sache noch und dann wird man weitersehen. Sie war nach dem Streit und zwischen zwei unmöglichen Verpflichtungen auf der Suche nach der kleinen Nadel gewesen, mit der sie die SIM-Karte in ihr Ersatzhandy tun wollte, nachdem der Bildschirm ihres Ersthandys am Abend vorher auf dem Bordstein vor in 1000 Splitter zerborsten war. Im Streit. Sie wusste genau, dass sie diese Nadel in weiser Voraussicht einmal in die Schublade gelegt hatte, einen Ort, an dem man sie ganz gewiss wiederfinden würde. Genau für solche Fälle nämlich sollte die Nadel in der Schublade zu finden sein.
Marie stand regungslos vor dem Chaoshaufen und der Chaos-Anblick tat ihr in den müden Gin-Tonic-Augen weh. Wie sollte man hier irgendetwas finden? Wie hatte innerhalb dieser einen Schublade nur zu einem so perversen Ausmaß an Wahllosigkeit kommen können? Wer hatte bei einem Einzug bestimmt „hier kommt jetzt der ganze Scheiß rein, der hier so rumfliegt“? – Wer hatte dieses hirnrissige Gesetz geschrieben? Etwas hatte sich verändert, und Marie machte sich nun mit kämpferischer, fast belustigter Miene Gedanken zur Schublade als solche:
Die Schublade
Jeder kennt sie. Jeder hat eine. Die Schublade verkörperte, was in der Psychoanalyse wahrscheinlich der hinterlistige Teil des Eisbergs ist, der gerade so unter der Wasseroberfläche ist. Symbolisch verheißungs-, und in jeder Hinsicht verhängnisvoll. Eine Ansammlung von unsortierten Gedanken, die in die Schublade gestopft werden, um sie nicht weiter ergründen zu müssen. An einem sicher gewähnten Ort an dem kein Gast den Besteckkasten vermuten, dort niemals suchend und daher auch nie finden, aufmachen und entblößen würde. Zwischen dem Ofen und dem ausziehbaren Kühlschrank eingebettet, die oberste von fünf ihresgleichen, und schmaler als die Spalte von Schubladen, in der oben das Besteck, dann Pfannen und dann Töpfe waren. Sie war unscheinbar, doch sie war da. Ein Haufen, der in seiner Gesamtheit so nichtssagend war, dass man ihn lieber ganz ignorierte. Wie konnten aufrichtige Mitglieder dieser zivilisierten Gesellschaft, die ordentliche Erwachsenenleben führten eine Schublade verantworten, in der sich eine haarige Haarbürste, Aspirinkrümel, Quittungen, Münzen, die durch tausend Hände gewandert sind, nicht-versandte Post und eine ausgelaufene Horde uralter Gummibären berührten?
Die Schublade als die gegenwärtige Situation war durch eine Kette von kleinen willkürlichen Handlungen entstanden aber konnte in ihrer Gesamtheit, wie sie da so auf dem Boden lag, unmöglich als Ganzes wieder zurück in die Schublade befördert werden. Die Zusammenhangslosigkeit der Dinge war, nun dass man sie entlarvt hatte, vollkommen inakzeptabel.
Und wie sie diesen Haufen da so liegen war, kam ihr auf einmal alles unmöglich vor. Das beseitigen des Chaos: unmöglich. Der nächste soziale Auftritt: unmöglich. Die Arme oder Beine zu einer nächsten Bewegung zu animieren: unmöglich. Sie sackte an der Küchenzeile hinunter wie ein etwas Aufblasbares, dem die Luft ausgeht, spürte den kalten Boden und die erbarmungslose Schwerkraft unter sich und sackte leise schluchzend in sich zusammen. Die Minuten und Stunden vergingen und erst das penetrante Piepsen ihres Handys unterbrach die bleierne Stille in ihr drin und in der Küche.
Als Marie den Kopf hoch, hatte die Dämmerung sie schon gierig in Dunkelheit gehüllt. Sie wusste nicht, wieviel Zeit verstrichen war, ihre Füße waren taub geworden und auch ihre Pobacken auf dem kalten Boden spürte sie nicht mehr. Sie starrte so lange auf den Schubladen-Chaoshaufen, wie er so unbeholfen vor ihr im Halbdunkeln lag, und mit der Zeit verstrich auch die Anspannung, die in jeder Körperfaser hing, und ihr Blick bekam etwas Zärtliches.
Marie stand auf, riss die Riemchen der Schuhe auf, die achtlos irgendwo liegenblieben, holte sich ein paar dicke Socken aus dem Schrank im gemeinsamen Schlafzimmer und kehrte mit einer Flasche Rotwein in der Hand, die noch vom Vorabend auf der Anrichte stand, an ihren Platz neben dem Chaoshaufen zurück. Sie setzte sich wieder hin und spürte, wie die Wärme langsam in ihren Körper zurückkehrte.
Von David, dem Betrüger, kam:
19:24: „Es tut mir leid.“
19:57: „Alles tut mir leid.“
20:31: „Ich weiß, dass Du da heute hin musst, ich will Dir das nicht versauen. Wir können später alles klären, ja?“
21:46: „Marie, geht´s Dir gut?“
Von der Unsäglichen, die sie geboren hat, kam:
19:34: „Wo bist Du???“
19:35: „Wir stehen am Eingang- wieso bist Du nicht hier?“
19:39: „Wieso kommst Du an einem Abend zu spät, der für deinen Vater so wichtig ist??????“
19:47: „Marie??????“
19:54: „Marie, Du bist unmöglich!!!!!!“
19:59: „wir gehen jetzt rein“
Woher war nicht klar, aber aus den Tiefen ihres Bauches löste sich mit einem Mal ein Lachen, ein Prusten, erst ein Gluckern, das rollte und gurgelte, dann kam es höher, zuckend, wurde heller, klarer, und tönte schließlich in voller Pracht und Lautstärke einer Sonate gleich aus ihr heraus. Marie lachte und lachte und lachte, ihr ganzer Körper vibrierte und sie schüttelte sich mit Tränen in den Augen.
Sie lachte ausdauernd und unermüdlich und ihr Gelächter war nicht mehr hysterisch, sondern bekam Charakter, reifte mit der Zeit, vollmundig, rund, und von allem befreiend. Ein Lachen das es gut mit einem meint. Marie blieb noch viele Stunden vor dem Chaoshaufen sitzen, wachend.