Radikal Ehrlich

«Nackttanzen?», wiederholte sie, obwohl sie es beim ersten Mal verstanden hatte. Lisa

und Timo waren auf ihrem ersten Date. Per Videocall. Während ihn die holprigen

Schweigepausen zwischen den ersten Sätzen nicht zu stören schienen, hasste Lisa diese

anfängliche Klebrigkeit, also hatte sie eilig das Lieblingsthema aller Deutschen angezapft.

«Dein Tipp gegen diese Hitze?» , hatte sie gefragt und sich dabei mit der Hand Luft

zugefächert. Auch am frühen Abend hielten sich die 32 Grad und die Stadt löste sich in

Betonhitze auf. Lisa schenkte sich ein Glas Wein ein, auch er hatte sich bei sich mit einem

Drink hingesetzt. Es war ihr erstes richtiges Treffen, wenn man einen Videocall als solches

durchgehen lassen möchte, was Lisa wollte und musste, denn weiter wollte sie nicht gehen,

was er aber noch nicht wusste. Ihre Flirts kamen aus dem Digitaluniversum und blieben dort.

Zu Fleisch und Blut kam es nie, sie wollte es beim chatten belassen. Lisa führte

tiefschürfende, erotische oder humorvolle Chat-Gespräche mit Männern, die sie noch nie

gesehen und dies auch nicht vor hatte. Diese befristeten, erfrischenden Online-tête-à-têtes

passten gut in ihren flüchtigen Alltag, sie ließ die Chats auf ihrem Laptop offen während sie

auf dem großen Bildschirm Fotografien von langen, hungrigen Models bearbeitete. Lisas

Leben bestand aus den Augenbrauen, Oberschenkelinnenseiten und Poren anderer Frauen.

Es war nicht so, dass die allgegenwärtige Schönheit in ihrem Berufsleben sie verunsichert

hätte. Nicht, dass sie was zu verstecken gehabt hätte, im Gegenteil. Lisa war schön. So schön,

dass jeder Mann, der sie zu Gesicht bekam, sie auf der Stelle treffen, berühren, lieben wollte.

Das wusste sie aus Erfahrung. Sie hatte dieses gewisse Aussehen. Treffen tat sie trotzdem

keinen. Sie hatte ihre Gründe.

Nun saß sie am heißesten Freitagabend des Jahres gegen ihre Prinzipien aber doch in

einem Video-Date. Sie hatten bereits ein paar nächtelang telefoniert und sie war dabei, sich

zu verlieren. Architekt, früh geheiratet früh geschieden, er teilte ihre Begeisterung für

Fotografie und sie seine für Architektur. Er war witzig, scharfsinnig und schien ihre schnellen

Gedanken lesen zu können. Es war fast unheimlich, wie viel sie sich in den Chats zu sagen

gehabt hatten. Jetzt saß er ihr gegenüber als Bewegtbild auf Bildschirm, und was für eins.

Timo hatte ein sommersprossiges, kantiges Gesicht und hellblaue Augen und sie wusste es

sofort. Seine Antwort elektrisierte den Raum und Lisa goß sich ein Glas Wein ein, um Zeit zu

schinden. Nackttanzen. Die Kombination der beiden Worte war frech, sehr frech für eine

erste Verabredung. Aber gerade frech genug, um einen kleinen Kick zu spüren. Lisa wollte

gerne jemand sein, der Dinge wie nacktbaden tat und darüber sprach. Jemand, der seinen

Körper in extatischer Bewegung, frei von Klamotten und Konventionen, liebte.

«Ganz genau», antwortete er todernst mit grinsenden Augen. «Nackttanzen ist das neue

Nacktbaden.»

Sie lachte zu laut auf und er stimmte ein, es war albern aber genau richtig. Lisa wollte

auch gerne so ein freier Körpermensch sein, war es aber nicht mehr. Seit dem Autounfall saß

sie einbeinig im Rollstuhl. Darüber sprechen durfte keiner, nicht einmal ihre Eltern. Lisa hatte

es nur ihrer besten Freundin erzählt und den Rest der Welt in Schweigen gehüllt. Sie wollte

so lange wie möglich auskosten, dass keiner etwas wusste. Es war ein heißer Sommer und

Lisa war nach Flirten auf Bildschirmen zumute. Sie würden niemals zusammen tanzen, aber

das musste er in diesem Moment nicht wissen.

«Es gibt diesen einen paradiesischen Strand in Mexiko, an dem alle nackt sind. Das ist ja

irgendwie außerhalb von Deutschland total selten», sagte sie und nahm noch einen Schluck.

«Pass auf, wenn es richtig gut läuft heute Abend entführe ich dich nach Mexiko»

«Und was dann? Haben wir Sex am Strand, trinken rauchigen Mezcal und tanzen nackt ins

Morgengrauen?» Sie zog die Augenbrauen übertrieben nach oben, um sich zu schützen.

Er blinzelte noch immer nicht.

«Ich lass das mal so stehen», sagte er schließlich mit einem schiefen Lächeln, das Lisas

verbleibendes Knie zu Pudding schmolz.

«Komm, wir spielen ein Spiel», er machte ein geheimnisvolles Gesicht. «Es heißt radikale

Ehrlichkeit. Ist doch so ein Trend gerade. Wir machen hier keine Bullshitnummer draus,

sondern packen einfach mal alles auf den Tisch, was mit uns nicht stimmt. Ich finde es

bescheuert, dass man sich auf so Dates immer nur erzählt, wie toll man ist. Wobei», er

zögerte kurz, «mit dir wird das Spiel nicht so leicht.»

«Wie meinst du das?»

«Du bist ziemlich perfekt.», sagte er, nicht cheesy, sondern wie eine neutrale

Beobachtung.

«Wart’s ab.» Lisa lächelte schwach und schenkte sich nach. «Also gut, ich fange an. Ich

hasse Raucher. Ich habe mal einen Mitbewohner aus der WG geschmissen, weil er

angefangen hat zu rauchen.»

«Ich liebe Rauchen. Es ist das Schönste auf der Welt. Es ist die große Freiheit in meinem

kleinen Leben, ich würde eher sterben, als damit aufzuhören.»

Er zündete sich eine Zigarette an.

Für einen kurzen Moment war es still, dann kicherten beide. Die Welt hielt für die

nächsten Minuten oder Stunden still. Es waren diese ersten Schritte eines balzenden

Schlagabtausches, in dem man sich herausfordert und gegenseitig ein wenig stachelt, sich

vorsichtig vortastet. Das zaghafte Aufknospen einer neuartigen Frequenz, auf der sich zwei

treffen und irgendwas reden, völlig egal was, da sie eigentlich nur aufgeladene Blitze hin und

her schießen und es beide schon wissen.

«Du hast auffällige Augen.» Er zündet sich noch eine Zigarette an, zieht lange und bläst

den Rauch weg von der Kamera.

«Danke, ich habe eine ungewöhnlich große Regenbogenhaut. Und ich trage

Kontaktlinsen.»

«Ehrlich. Die meisten Frauen würden nicht mal zugeben, dass sie falsche Wimpern

tragen.»

«Finde ich albern bei sowas zu lügen. Wir wollen doch alle gut aussehen, was ist dabei?»

Sie gab sich lässig, zuckte in gespieltem Unverständnis die Schultern. Aber gerade nur so

hoch, dass ihr Rollstuhl dabei verborgen blieb.

«Warum trägst du Kontaktlinsen?»

«Ich bin so etwas wie eine Augen-Fetischistin. Das liegt an meinem Beruf, glaube ich. Und

mein Vater ist Augenarzt, das spielt wohl auch mit rein. Bei uns zuhause lagen ständig Augen

rum. Irgendwie faszinieren sie mich, und wie man sie täuschen kann.»

«Wie meinst du das?» Er rückte ein Stückchen näher an den Bildschirm heran und

begutachtete ihre Augen aus der Nähe. Sie tat es ihm gleich und rückte noch näher.

«Naja, meine Kontaktlisten sind eine Täuschung. Sie lassen meine Augen viel größer und

dunkler erscheinen.»

«Ich muss was gestehen. Apropos optische Täuschung.»

«Ja?» Lisa hielt den Atem an.

«Ich bin klein.» Er hob die Hände entschuldigend hoch. «Ich habe nicht gelogen, ich habe

einfach meine Körpergröße nicht angegeben in der App, weil ich weiß, dass Frauen große

Männer mögen. Ich bin auch nicht winzig, eben klein. Wenn das für dich ein Thema ist, kein

Problem. Aber ich wollte dir, also wollte mir erstmal eine Chance geben.»

Es war attraktiv, wie er bei seinem kleinen Geständnis errötete. Lisa schwieg kurz und er

war es, der den Atem anhielt.

«Wie groß bist du?», hörte Lisa sich fragen, von ihrer eigenen Dreistigkeit überrumpelt.

«Eins siebzig»

«Ach, das ist doch gar nicht schlimm. Die besten Männer der Geschichte waren klein, das

weiß doch jeder», sie faselte, um die Stimme in ihrem Kopf zu übertönen, die sie angiftete,

sie müsse jetzt selber auch die Wahrheit sagen und keine feige Sau sein. Jetzt wäre der

Moment, genau jetzt. Die Sekunden vergingen langsam.

Vier Worte nur, vier kleine Worte. Ich sitze im Rollstuhl oder Ich habe keine Beine, eine der

beiden Wortkombinationen würde ausreichen, um alles zu richten. Das Blut rauschte in ihren

Ohren und Lisa befahl dem Mund das Öffnen. Sie saß eine Weile so da, mit halboffenen

Mund, und er beugte sich noch weiter zu ihr, die Augen fragend auf den geöffneten Mund

fixiert.

«Ich muss mal. Ich schalt mich kurz aus dafür?», sie betonte es wie eine Frage, obwohl es

keine war. «Musst ja nicht gleich meine Klospülung hören. Soweit sind wir noch nicht»,

scherzte sie lahm aber meinte es auch so. Bevor er etwas erwidern konnte, schloss sie das

Video-Fenster, drehte sich Richtung Bad, machte noch einmal kehrt und klappte den Laptop

doch ganz zu. Sie musste sich beeilen. Ohne Hilfe auf die Toilette war aktuell noch eine

längere Aktion und er sollte nicht denken, sie würde mehr entleeren als ihre Blase.

Obwohl sie unter Strom stand, genoss Lisa die paar Minuten im Bad. Die erste flüchtige

Trennung während eines ersten Dates war ein heiliger Moment für alle Beteiligten. Sie

erinnerte sich an viele Dates in vielen Bars. Lief es schlecht, dann bemitleidete man sich im

Spiegelbild. Aber lief es gut, war dieser kurze Moment mit sich selbst, ein errötetes

Abklatschen mit sich selbst, ein kurzes sich beruhigen, tief durchatmen, cool bleiben und mit

einem Lächeln wieder zurück in die Arena kehren. Dort wendete man sich mit wabbeligen

Knien wieder dem Menschen zu, der in der letzten 45 Minuten ein neues Universum vor

einem ausgebreitet hatte.

In Lisas Kopf stritten sich mehrere Gefühle miteinander. Euphorie über den Menschen,

dem sie zufällig aus Milliarden von Menschen begegnet war, gemischt mit

Verliebtheitshormonen, gemischt mit Schuldbewusstsein. Sie wollte nur ein bisschen flirten,

was war schon dabei? Bullshit, sagte die andere Stimme. Timo, der kleine Timo, ist es

vielleicht, aber wenn du jetzt nicht ehrlich bist, kann aus euch niemals etwas werden. Lisa

spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, sie war bereits zu lange weg. Der Tag hatte dem

Abend in der Zwischenzeit die Hand gegeben und als sie zurück zu ihrem Schreibtisch rollte,

machte sie sich ein Licht an. Von draußen drang das aufgekratzte Stimmengewirr zu ihnen

hoch, das jedem dieser wunderbaren, endlosen Berliner Sommernächte vorausgeht.

Als den Call wieder betrat, waren seine Augen direkt auf den Bildschirm geheftet, als

hätte er in der Zwischenzeit nichts anderes gemacht, als auf ihr Gesicht zu warten. Er lächelte

sie an und sie merkte, dass es bereits passiert war. Sie lächelte und unterdrückte den Impuls,

mit ihren Fingern sein Gesicht auf dem Bildschirm zu berühren. Sie waren ineinander

versunken.

«Du bist sehr schön», sagte er leise.

«Ich weiß».

Sie wollte nicht provozieren, sondern lediglich den Fakt so schnell wie möglich aus dem

Weg räumen. Ihm direkt zu sagen, dass sie wohl um ihre Schönheit wusste, würde ihn

hoffentlich davon abhalten, es erneut zu sagen. Sie war der Inbegriff von ästhetischer

Appetitlichkeit. Ihr Gesicht hatte eine perfekte Form, genau wie ihr zarter, perfekter Schädel,

dem die jungenhaften fünf Centimeter schmeichelten, denn sie konnte das tragen, es

brachte ihr Pfirsichgesicht nur noch mehr zur Geltung. Ihre Butterlippen waren voll und

geschwungen und luden ein, darin zu versinken, das wusste sie. Ihre kleine, spitze Nase und

die großen dunklen Augen ließen sie aussehen, wie ein junges Reh, das wusste sie. Ihr

Oberkörper war zierlich und unter ihrem Schlüsselbein konnte man die straffen Ansätze eines

ebenso vollen, jungen Dekolletés erahnen. All das kriegte er zu sehen, und es gefiel ihm. Das

wusste sie, wollte es aber nicht. Lisa war ungeschminkt, sie trug einen normalen

Rundausschnitt, sie hatte sich alle Mühe gegeben.

«Schönheit ist nicht alles». Sie rieb die schwitzigen Hände auf der Oberfläche ihres Beines

ab und wollte das Thema wechseln.

«Ist mir klar. Aber trotzdem. Ich könnte dich stundenlang ansehen.»

«Erzähl mir lieber noch mehr von deiner Schwester», erwidert sie eine Spur zu laut.

«Wann ist sie nach Australien ausgewandert? Die ist ja verrückt!» Sie schenkte sich nach.

Sie redeten über seine Schwester und ihren Mann, die in Melbourne wohnen und ein

Restaurant dort haben, sie reden über seine Nichten und ihre Geschwister, die in Bayern

wohnen. Es waren keine Datefragen mehr nötig, das Gespräch floss von ganz alleine. Fließen

war kein Wort dafür, es rauschte, gierig und genüsslich griff ein Satz nach dem nächsten und

sie konnten nicht genug davon kriegen, bis der Himmel draußen lachsfarben glänzte.

Sie trank immer weiter und er rauchte immer schneller und so hatten sie beide etwas,

woran sie sich festklammern konnten, während die Umrisse der Nacht und des großen

Ganzen um sie herum verschwanden.

«Ich glaub es ja nicht, die Sonne geht auf. » Er streckte sich ein wenig und zündete sich

noch eine Zigarette an. «Wir zwei, was?»

Lisa spürte keinen Hauch von Müdigkeit und wollte das Gespräch so lange wie möglich

hinauszögern, weil sie wusste, dass er sie treffen will nach diesem Rausch. Vielleicht würde

sie ihn noch auf einen weiteren Videocall vertrösten können, aber dann nicht noch einen,

das wäre albern. Das würde ihm auch nicht stehen, er war ein authentischer Mensch, der

den Dingen in die Augen sehen wollte. Sie waren keine Teenager mehr. Es wäre unlogisch,

sich jetzt nicht zu treffen.

«Hey!» Er rieb sich die Augen: «Ich will dich jetzt nicht überrumpeln, aber ich bin eh am

Wochenende in Berlin für eine Hochzeit. Vielleicht können wir uns zum Frühstück treffen?»

Lisa schwieg. Er fixierte sie mit seinem Blick und versuchte, ihre Zurückhaltung

einzuordnen.

«Vielleicht muss ich dich mal raus aus deiner aufgepeitschten Kreuzberg-Blase locken.

Hättest du Lust mit mir auf den Teufelsberg zu gehen?»

Lisa stellte sich vor, wie er versuchen würde, ihren Rollstuhl den tiefen, sandigen Weg

hinauf zum Teufelsberg zu hieven und erschauderte innerlich. Die Leute würden gucken, ihre

Hilfe anbieten, aufgeben und verlegen weitergehen. Niemals würde sie mit ihm zum

Teufelsberg fahren.

«Klingt gut. Ich liebe es, da hochzulaufen. Dieser Blick da oben, über den Wolken von

Berlin.» Sie legte das Kinn in die Hand und lächelte sein Bild an.

„Ja cool. Ich könnte dich sogar abholen, ich fahre mit meinem Motorrad hoch. Wollen wir

grob Samstagmittag anpeilen?»

«Ja super, ich freu mich»

«Ich freu mich auch auf dich, Li-sa.» Er sprach ihren Namen mit feierlichem Bedacht aus,

als wäre sie gerade erst zu einer realen Person geworden. „Schlaf gut und bis Samstag.»

«Du auch, bis Samstag!». Lisa hob noch einmal leicht die Hand zum Gruß und lächelte

matt. Sie war plötzlich todmüde. Sie verließ den Call, löschte ihren Chatverlauf, blockierte

sein Profil und entfernte den ganzen Menschen mit ein paar Klicks. Dann knipste sie das

Schreibtischlicht aus und rollte langsam Richtung Bad.

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Der Chaoshaufen