Warmes Fleisch
Mülltrennung, das war’s. Normas Fingernägel graben sich tief in ihre Haut. Wie immer, wenn sie sich nicht im Griff hat und an ihren Vater denkt. Die Gedanken machen, dass ihre Finger kribbeln. Die scharfen Kanten sind das schmerzhafteste, was sie an ihrem eigenen Körper finden kann, denn beißen möchte sie sich nicht. Der Zug setzt sich zögerlich in Bewegung, er lässt sich Zeit, Berlin abzustreifen. Sie hat knapp acht Stunden klebrige Fahrt vor sich, wer wird sich so lange im Griff haben?
Es ist Jahre her, dass sie die Bahn genommen hat. Seitdem sie Geld hat, fliegt sie.
Aber der erste Flug nach Basel überschneidet sich mit einem wichtigen Call, den sie auch etwa fünfzehn Minuten eher verlassen muss, wenn sie rechtzeitig in der Kirche sein will. Normas Vater wird beerdigt. Also mit der Bahn, Norma hasst bahnfahren.
Grauslich einsam verendet, so die Worte der Nachbarin.
Sie hat ein kleines Sechserabteil für sich, hallelujah, dem Himmel sei Dank. Pulsierende Menschenkörper, fremde Unterhaltungen, Kindergeschrei, das kann sie alles nicht ertragen. Der einzige Mensch, den sie “in echt” toleriert, ist der Mann, der ihr das Sushi an die Wohnungstür bringt.
Sie sitzt alleine mit ihren Gedanken am Fensterplatz in Fahrtrichtung. Draußen ziehen hässliche Vororte und drinnen ziehen hässliche Erinnerungen als flüchtige Fetzen vorbei. Ihr letztes Gespräch, der Streit vor sieben Jahren. Acht Stunden Fahrt und sie hat nichts zu tun, außer den verbotenen Gedanken mit Fingernägeln weh zu tun und sich zu schämen.
In dem Tischmülleimer liegt eine Bananenschale in einem Plastikjoghurtbecher. Man kann die Klappe nicht mehr zumachen, sie klafft wie eine offene Wunde. Dieser würgende Eimer und ich, wir haben was gemeinsam, denkt sie.
Die Tür geht auf und ein Fremder platzt ungefragt in ihre Gedanken. Da war ganz sicher keine Reservierung mehr. Das ist ihr Zimmer.
“Ist hier noch frei?'', fragt er nonchalant und setzt sich an ihr Fenster, obwohl der Rest des Abteils frei ist. Völlig krankes Verhalten. Jeder normale Mensch würde sich an den Gang setzen und den größtmöglichen Abstand zu anderen lassen.
Der Typ sitzt ihr jetzt konfrontativ bis aggressiv gegenüber. Ein großer Stapel Bücher landet auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen und belegt ihre Tischhälfte.
Was ein Arsch.
Er hat ein fleischiges Gesicht unter durchsichtiger Haut, blutunterlaufene Augen. Fettiger Pferdeschwanz, ausgebeulter Norwegerpulli und eine abgewetzte Papiermappe unterm Arm. Mit dieser Sorte Mensch möchte sie nichts zu tun haben. Aber diese Sorte Mensch bleibt da sitzen und sie kann nichts dagegen tun.
Die atomaren Einzelteile seines Körpers sind den atomaren Einzelteilen ihres Körpers plötzlich erschreckend nah. Sie schließt die Augen, er soll nicht laut atmen, nicht riechen und sie um Himmels willen nicht ansprechen. Er möge sich bitte einfach in Luft auflösen.
“Gehst du auf eine Beerdigung?”, fragt der Typ mit einer nervigen Pädagogenstimme. Sie trägt schwarz, wie immer. Diese Unterhaltung muss im Keim erstickt werden. Kundenerziehung nennt man das bei ihr in der Agentur. Man zeigt dem Kunden direkt am Anfang vom Projekt, welche Linie man fährt, dass man sich nicht rumschubsen lässt. Fressen oder gefressen werden.
„Ja.'' Ihre Augen bleiben geschlossen.
„Das tut mir leid. Jemand, der dir nahe stand?“
Sie wird nicht noch einmal antworten. Seine Frage hängt kurz unangenehm und sperrig in der Luft, bevor sie im Abteil verfliegt.
Es tut ihr leid, das muss sie sich eingestehen. Sie hat sich oft ihren eigenen Tod vorgestellt, und wie ihr Vater bei ihrer Beerdigung heulen und alles bereuen würde. Wie leid es ihm alles tun würde. Ein primitiver aber geiler Trick.
Mülltrennung, das war’s. Der letzte große Streit rollt in grellen Filmszenen vor ihren Augen ab. Hochrote Köpfe, schreiende Münder, Speichelfetzen in slow-motion durch die Luft. Er hatte Nespresso-Kapseln in den Komposteimer getan. Mülltrennung, Veganismus, Lebensentwurf, sie haben über alles gestritten. Er hat sich geweigert, sie zu verstehen und ihr vorgeworfen, sie würde nicht richtig leben, sie solle mal einen Freund haben und ihre Jugend genießen. Wie sie ihre Scheißjugend genießen soll, wenn alle Fische Plastik fressen, du scheiß Boomer, hat sie zurückgeschrien.
Der letzte Ausdruck ihrer Liebe, an den sie sich erinnern kann. Der Körper gegenüber riecht nach Bioladen und Ziegenstall. Ihr Magen knurrt sie aus ihren Gedanken.
„Da hat aber jemand Hunger“
Ihre Augen bleiben fest geschlossen. Sie fragt sich, ob sie ihn jetzt noch fragen kann, ihr seine Platzreservierung zu zeigen.
„Magst du?“
Sie kann nicht sehen, was er ihr anbietet, aber sie kann es riechen.
22 Jahre vegan, aber sie kann noch immer jedes Fleisch der Welt am Geruch erkennen, hat jedes rauchige Steak und jede nussige Lammhüfte abends in seinen warmen Armen erschnüffelt. Ihr Vater ist Metzger. War Metzger.
Der Typ hat ein Mettbrot auf ihren Tisch gelegt.
Sie öffnet die Augen, da liegt tatsächlich eine offene Brotdose. Darin zwei Brötchenhälften mit rohem, gewolftem Schwein und Zwiebelstückchen.
Ihre Finger fangen wieder an zu kribbeln und sie drückt ihre Nägel in die unschuldigen Kuppen. Sie darf die Kontrolle nicht verlieren. Sie hat sich fest vorgenommen, nicht an ihn zu denken. Sie schafft für gewöhnlich alles, was sie sich vornimmt, so wie sie sich vorgenommen hatte, nicht mehr mit ihm zu sprechen. Das ging sieben Jahre lang.
„Danke, ich esse kein Fleisch“
„Warum das?“ Er zuckt mit den Schultern und beißt dann selbst in eine Brötchenhälfte.
Seine Lippen glänzen vom Schweinefett.
„It’s a long story“
„Sätt is no problem, because I have a long time.“ Er strahlt sie an und zwischen seinen schlechten Naturzahnpasta-Zähnen hängt ein weißer Fleischfaden. Was kann sie tun, damit er geht?
Sie verlässt das Abteil fluchtartig. Blick nach links, Kinder am Boden, Blick nach rechts, ein Junggesellenabschied. Gefangen wie ein Fuchs im Bau.
Aber hier ist jetzt friss oder stirb, also sprintet sie mit angehaltenem Atem durch ein paar Abteile auf der Suche nach was zu essen. Das Bordbistro hat zu. Erschöpft lässt sie sich im leeren Speisewagen auf einen Stuhl fallen. Draußen huschen Lichter in unregelmäßigen Abständen durch die schwarze Nacht.
Als Kind hat sie Mettwurst geliebt.
Im letzten Abteil findet sie doch noch einen fiesen Heißgetränkeautomaten. Kurz kommt ihr der Gedanke, sich einfach woanders hinzusetzen, aber sie ist ja kein feiges Schwein. Sie muss den Typ irgendwie aus ihrem Abteil rausmobben.
Der Tee soll ihre Waffe sein. Das Manöver geht ganz leicht. Zurück im Abteil stolpert sie beim sich hinsetzen und schüttet den gesamten Becher mit kochendem Teewasser auf das Monster und seine Papierfestung.
“Entschuldige mich, tut mir leid, oh nein, wie konnte das passieren!”, verpiss dich, fügt sie in Gedanken hinzu.
Er beginnt, scheinbar unberührt von ihrem Angriff , seelenruhig und mit großer Sorgfältigkeit, die nassen Blätter auf dem Tisch auszubreiten.
Wird er sie nicht anschreien, angreifen, ohrfeigen? Er lässt sich zu keiner Regung hinreißen. Ratlos blicke sie hinaus in die Nacht, sieht aber nur eine hässliche Fratze im Fenster. Sie spürt etwas Nasses an ihrem Knöchel. Vor ihr tropft der nasse Papierhaufen traurig auf den Boden. Als hätte er nur darauf gelauert, meinen Blick auf seiner Lektüre zu erwischen, schlägt er endlich zurück.
„In der Ökumene geht es um Brücken zwischen der evangelischen und der katholischen Glaubensgemeinschaft.“ sagt er ganz stolz. Und auf ihren ausdruckslosen Blick: „Drittes Lehrjahr Theologie.“
Ein fleischfressender Theologe also, ein Mett-Theologe.
Noch vier Stunden. Sie hat keinen Empfang und schlägt ihren Fuß mit Ausdauer gegen das Tischbein. Manchmal erwischt sie dabei sein Bein.
Sie will ihm wehtun, so wie er ihr wehtut, indem er ihr das Gewissen unter die Nase hält, kriegt aber nur sorgenvolle Bernhardiner-Augen zurück, die geht es dir gut? fragen, woraufhin sie den Fuß noch schneller schlägt.
Reagiert der überhaupt auf irgendetwas? Seine Augen gleiten seelenruhig von Zeile zu Zeile, auch sein Atem ist ruhig. Er wippt nicht mit dem Fuß, er zuckt nicht einmal mit dem Finger, er sitzt regungslos in den Text vertieft.
“Bist du gläubig?'', fragt er plötzlich doch, nachdem sie minutenlang ihren Fuß gegen sein Schienbein geschlagen hat. Endlich zeigt er sein wahres Gesicht.
“Oder spirituell?”, er macht Gänsefüßchen in die Luft.
„Na klar. 270 Euro spirituell nämlich, so viel kostet mein Yoga-Abo im Monat.“
Der denkt wohl, er kann hier reinkommen, seinen christlichen Scheiß auspacken, ihr sagen, wie sie ihr Leben zu leben hat und sie für schuldig erklären. Ihre Finger kribbeln unerträglich.
Das Abteil wird kleiner. Mit jeder Minute kommt es ihr enger vor. Seine Körperwärme schwappt langsam zu ihr herüber, sie kann sie auf ihren nackten Oberarmen fühlen.
Es ekelt sie, aber sie wird sich hier keinen Zentimeter wegbewegen. Das ist ihr Abteil und sie wird es mit ihrem Leben verteidigen, falls nötig.
Der Hunger kriecht ihre Speiseröhre hoch und füllt ihren Mund mit Magensäure. Ihr Blick wandert wieder zum Mettbrötchen. Mit Essen spielt man nicht, hat sie gesagt, als er den größten Quatsch mit der Mettwurst angestellt hat. Herzen aus Mett, Smileys aus Mett. Wieso? Hat er entgegnet, ich mach totes Fleisch wieder lebendig!
“Ist biologisch-dynamisch angebaut von einem glücklichen Bio-Schwein, sagt der Mett-Theologe, ohne von seinem Text hochzuschauen. Sie fühlt sich ertappt. Er holt ein Taschenmesser aus seinem Wanderrucksack und halbiert die Brötchenhälfte. Dann führt er das eine Stück zum Mund, lässt es kurz unterhalb seiner Nasenflügel schweben und beißt behutsam hinein. Sie würde ihm gerne eine reinhauen.
„Falls dir doch noch danach ist, später vielleicht, ich lass das mal hier für dich stehen. Gute Nacht.“ Mit diesen Worten lehnt er sich zurück und schließt die Augen.
Vor ihr der schlafende Mett-Theologe und zwischen ihnen das tote Schwein.
Weihnachten 2014. Am ersten Abend Islam, am zweiten dann Mülltrennung. Sie haben irgendwann aufgehört zu streiten. Zu anstrengend, sie würden einander niemals verstehen. Danach hatten sie nichts mehr zu sagen, die Gespräche wurden kürzer, die Telefonate seltener, sie haben sich danach nie wieder gesehen, sie hat gute Ausreden gefunden, die meistens mit Arbeit zu tun hatten.
Wäre der Mett-Theologe nicht hier, würde sie sich jetzt dafür bestrafen. Sie hasst ihn dafür, dass er ihr das kaputt macht. Ihre Finger sind mittlerweile blutig, aber sie spürt noch nichts. Das Taschenmesser liegt einladend vor ihr. Wie fände er es wohl, wenn sie ihm damit einmal ganz schnell in den Finger schneiden würde?
Das war Notwehr, würde sie sagen, er hat sie in ihrem Abteil bedroht. Ist hier eingedrungen und hat ihr seine Körperwärme aufgedrängt. Sie klappt das Messer aus und fährt mit der Hand über die Klinge. Sie ist ein Feigling. Ihre Finger kribbeln unerträglich. Sie kann ihn nicht eine Sekunde länger ertragen.
Sie springt auf, zerrt ihren Koffer aus der Gepäckablage über ihr, schmeißt ihn mit voller Wucht auf ihn und schreit so laut sie kann:
„Warum bist du eigentlich so ein Arschloch und attackierst du mich in meinem Abteil?
Endlich ein erstes panisches Flickern in seinen Augen, endlich erwacht da auch mal ein Monster zum Leben. Sein Pferdeschwanz hat sich gelöst und so sieht er aus wie Jesus.
„Hör mal. Ich weiß ja nicht, was gerade bei dir los ist, aber ich will mich nicht mit dir streiten, das lohnt sich nicht“, sagt Mett-Jesus ruhig.
„Das lohnt sich nicht?“, kreischt sie und kann jetzt nichts mehr zurückhalten. Sie plumpst auf ihren Sitz, vergräbt das Gesicht in den verschränkten Armen und lässt sich endgültig gehen, sie heult.
Sie haben aufgehört zu streiten, es gab nichts mehr zu sagen. Die Telefonate wurden kürzer. Wie geht es dir, ja schön, bis bald. Sie gingen einander nichts mehr an.
Geht sie noch irgendwen etwas an?
„Mein - Papa, wimmert sie zwischen Schluchzern, „ist - gestorben - und - ich - hab - sieben - Jahre - nicht - ihm - gesprochen, weil - er - den - Müll- nicht - richtig trennt“.
Da spürt sie seine Hand auf ihrem Haar, sie fährt vorsichtig über ihren Kopf, es ist schön warm. Die Schluchzer werden langsamer, fangen einen Rhythmus ein. Der Mett-Theologe streichelt ihren Kopf und macht „sh sh sh“, bis sie einschläft.
Als sie aufwacht, ist der Himmel lachsrosa und sie sind in der Schweiz. Der Mett-Theologe schläft regungslos mit dem Gesicht gegen die Fensterscheibe. Sie hat Rotze im Mund und Kopfschmerzen, aber ihre Finger kribbeln nicht.
Sieben Minuten vor Basel passiert es.
Sie nimmt das Stück Mettbrötchen zaghaft, als könne er davon wach werden, aus der Brotdose, und beißt hinein. Ihr Mund füllt sich mit süßer Schärfe, Salz und weichem Fett. Sie kaut langsam und andächtig mit geschlossenen Augen.
So schmeckt Erlösung.
Drei Minuten vor Basel wischt sie ihre fettigen Finger am Sitzpolster ab und lehnt sich zufrieden zurück. Gleich wird sie aus dem Zug aussteigen und für immer aus seinem Leben verschwinden.
Sie ist froh, dass er schläft. So müssen sie sich nach dem kleinen Zwischenfall nicht beschämt in die Augen schauen. Sie würde über das Mettbrötchen nicht ihr Gesicht verlieren. Mit dem Koffer in der Hand wirft sie noch einen Blick auf Armin. So heißt er, das hat sie auf seiner Arbeit gelesen. Dann zieht sie vorsichtig die Abteiltür auf, um geräuschlos zu verschwinden, da hört sie die Pädagogenstimme aus dem Hinterhalt:
„Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm.“
Ruckartig dreht sie sich um. Armin lächelt mit geschlossenen Augen.
Radikal Ehrlich
«Nackttanzen?», wiederholte sie, obwohl sie es beim ersten Mal verstanden hatte. Lisa
und Timo waren auf ihrem ersten Date. Per Videocall. Während ihn die holprigen
Schweigepausen zwischen den ersten Sätzen nicht zu stören schienen, hasste Lisa diese
anfängliche Klebrigkeit, also hatte sie eilig das Lieblingsthema aller Deutschen angezapft.
«Dein Tipp gegen diese Hitze?» , hatte sie gefragt und sich dabei mit der Hand Luft
zugefächert. Auch am frühen Abend hielten sich die 32 Grad und die Stadt löste sich in
Betonhitze auf. Lisa schenkte sich ein Glas Wein ein, auch er hatte sich bei sich mit einem
Drink hingesetzt. Es war ihr erstes richtiges Treffen, wenn man einen Videocall als solches
durchgehen lassen möchte, was Lisa wollte und musste, denn weiter wollte sie nicht gehen,
was er aber noch nicht wusste. Ihre Flirts kamen aus dem Digitaluniversum und blieben dort.
Zu Fleisch und Blut kam es nie, sie wollte es beim chatten belassen. Lisa führte
tiefschürfende, erotische oder humorvolle Chat-Gespräche mit Männern, die sie noch nie
gesehen und dies auch nicht vor hatte. Diese befristeten, erfrischenden Online-tête-à-têtes
passten gut in ihren flüchtigen Alltag, sie ließ die Chats auf ihrem Laptop offen während sie
auf dem großen Bildschirm Fotografien von langen, hungrigen Models bearbeitete. Lisas
Leben bestand aus den Augenbrauen, Oberschenkelinnenseiten und Poren anderer Frauen.
Es war nicht so, dass die allgegenwärtige Schönheit in ihrem Berufsleben sie verunsichert
hätte. Nicht, dass sie was zu verstecken gehabt hätte, im Gegenteil. Lisa war schön. So schön,
dass jeder Mann, der sie zu Gesicht bekam, sie auf der Stelle treffen, berühren, lieben wollte.
Das wusste sie aus Erfahrung. Sie hatte dieses gewisse Aussehen. Treffen tat sie trotzdem
keinen. Sie hatte ihre Gründe.
Nun saß sie am heißesten Freitagabend des Jahres gegen ihre Prinzipien aber doch in
einem Video-Date. Sie hatten bereits ein paar nächtelang telefoniert und sie war dabei, sich
zu verlieren. Architekt, früh geheiratet früh geschieden, er teilte ihre Begeisterung für
Fotografie und sie seine für Architektur. Er war witzig, scharfsinnig und schien ihre schnellen
Gedanken lesen zu können. Es war fast unheimlich, wie viel sie sich in den Chats zu sagen
gehabt hatten. Jetzt saß er ihr gegenüber als Bewegtbild auf Bildschirm, und was für eins.
Timo hatte ein sommersprossiges, kantiges Gesicht und hellblaue Augen und sie wusste es
sofort. Seine Antwort elektrisierte den Raum und Lisa goß sich ein Glas Wein ein, um Zeit zu
schinden. Nackttanzen. Die Kombination der beiden Worte war frech, sehr frech für eine
erste Verabredung. Aber gerade frech genug, um einen kleinen Kick zu spüren. Lisa wollte
gerne jemand sein, der Dinge wie nacktbaden tat und darüber sprach. Jemand, der seinen
Körper in extatischer Bewegung, frei von Klamotten und Konventionen, liebte.
«Ganz genau», antwortete er todernst mit grinsenden Augen. «Nackttanzen ist das neue
Nacktbaden.»
Sie lachte zu laut auf und er stimmte ein, es war albern aber genau richtig. Lisa wollte
auch gerne so ein freier Körpermensch sein, war es aber nicht mehr. Seit dem Autounfall saß
sie einbeinig im Rollstuhl. Darüber sprechen durfte keiner, nicht einmal ihre Eltern. Lisa hatte
es nur ihrer besten Freundin erzählt und den Rest der Welt in Schweigen gehüllt. Sie wollte
so lange wie möglich auskosten, dass keiner etwas wusste. Es war ein heißer Sommer und
Lisa war nach Flirten auf Bildschirmen zumute. Sie würden niemals zusammen tanzen, aber
das musste er in diesem Moment nicht wissen.
«Es gibt diesen einen paradiesischen Strand in Mexiko, an dem alle nackt sind. Das ist ja
irgendwie außerhalb von Deutschland total selten», sagte sie und nahm noch einen Schluck.
«Pass auf, wenn es richtig gut läuft heute Abend entführe ich dich nach Mexiko»
«Und was dann? Haben wir Sex am Strand, trinken rauchigen Mezcal und tanzen nackt ins
Morgengrauen?» Sie zog die Augenbrauen übertrieben nach oben, um sich zu schützen.
Er blinzelte noch immer nicht.
«Ich lass das mal so stehen», sagte er schließlich mit einem schiefen Lächeln, das Lisas
verbleibendes Knie zu Pudding schmolz.
«Komm, wir spielen ein Spiel», er machte ein geheimnisvolles Gesicht. «Es heißt radikale
Ehrlichkeit. Ist doch so ein Trend gerade. Wir machen hier keine Bullshitnummer draus,
sondern packen einfach mal alles auf den Tisch, was mit uns nicht stimmt. Ich finde es
bescheuert, dass man sich auf so Dates immer nur erzählt, wie toll man ist. Wobei», er
zögerte kurz, «mit dir wird das Spiel nicht so leicht.»
«Wie meinst du das?»
«Du bist ziemlich perfekt.», sagte er, nicht cheesy, sondern wie eine neutrale
Beobachtung.
«Wart’s ab.» Lisa lächelte schwach und schenkte sich nach. «Also gut, ich fange an. Ich
hasse Raucher. Ich habe mal einen Mitbewohner aus der WG geschmissen, weil er
angefangen hat zu rauchen.»
«Ich liebe Rauchen. Es ist das Schönste auf der Welt. Es ist die große Freiheit in meinem
kleinen Leben, ich würde eher sterben, als damit aufzuhören.»
Er zündete sich eine Zigarette an.
Für einen kurzen Moment war es still, dann kicherten beide. Die Welt hielt für die
nächsten Minuten oder Stunden still. Es waren diese ersten Schritte eines balzenden
Schlagabtausches, in dem man sich herausfordert und gegenseitig ein wenig stachelt, sich
vorsichtig vortastet. Das zaghafte Aufknospen einer neuartigen Frequenz, auf der sich zwei
treffen und irgendwas reden, völlig egal was, da sie eigentlich nur aufgeladene Blitze hin und
her schießen und es beide schon wissen.
«Du hast auffällige Augen.» Er zündet sich noch eine Zigarette an, zieht lange und bläst
den Rauch weg von der Kamera.
«Danke, ich habe eine ungewöhnlich große Regenbogenhaut. Und ich trage
Kontaktlinsen.»
«Ehrlich. Die meisten Frauen würden nicht mal zugeben, dass sie falsche Wimpern
tragen.»
«Finde ich albern bei sowas zu lügen. Wir wollen doch alle gut aussehen, was ist dabei?»
Sie gab sich lässig, zuckte in gespieltem Unverständnis die Schultern. Aber gerade nur so
hoch, dass ihr Rollstuhl dabei verborgen blieb.
«Warum trägst du Kontaktlinsen?»
«Ich bin so etwas wie eine Augen-Fetischistin. Das liegt an meinem Beruf, glaube ich. Und
mein Vater ist Augenarzt, das spielt wohl auch mit rein. Bei uns zuhause lagen ständig Augen
rum. Irgendwie faszinieren sie mich, und wie man sie täuschen kann.»
«Wie meinst du das?» Er rückte ein Stückchen näher an den Bildschirm heran und
begutachtete ihre Augen aus der Nähe. Sie tat es ihm gleich und rückte noch näher.
«Naja, meine Kontaktlisten sind eine Täuschung. Sie lassen meine Augen viel größer und
dunkler erscheinen.»
«Ich muss was gestehen. Apropos optische Täuschung.»
«Ja?» Lisa hielt den Atem an.
«Ich bin klein.» Er hob die Hände entschuldigend hoch. «Ich habe nicht gelogen, ich habe
einfach meine Körpergröße nicht angegeben in der App, weil ich weiß, dass Frauen große
Männer mögen. Ich bin auch nicht winzig, eben klein. Wenn das für dich ein Thema ist, kein
Problem. Aber ich wollte dir, also wollte mir erstmal eine Chance geben.»
Es war attraktiv, wie er bei seinem kleinen Geständnis errötete. Lisa schwieg kurz und er
war es, der den Atem anhielt.
«Wie groß bist du?», hörte Lisa sich fragen, von ihrer eigenen Dreistigkeit überrumpelt.
«Eins siebzig»
«Ach, das ist doch gar nicht schlimm. Die besten Männer der Geschichte waren klein, das
weiß doch jeder», sie faselte, um die Stimme in ihrem Kopf zu übertönen, die sie angiftete,
sie müsse jetzt selber auch die Wahrheit sagen und keine feige Sau sein. Jetzt wäre der
Moment, genau jetzt. Die Sekunden vergingen langsam.
Vier Worte nur, vier kleine Worte. Ich sitze im Rollstuhl oder Ich habe keine Beine, eine der
beiden Wortkombinationen würde ausreichen, um alles zu richten. Das Blut rauschte in ihren
Ohren und Lisa befahl dem Mund das Öffnen. Sie saß eine Weile so da, mit halboffenen
Mund, und er beugte sich noch weiter zu ihr, die Augen fragend auf den geöffneten Mund
fixiert.
«Ich muss mal. Ich schalt mich kurz aus dafür?», sie betonte es wie eine Frage, obwohl es
keine war. «Musst ja nicht gleich meine Klospülung hören. Soweit sind wir noch nicht»,
scherzte sie lahm aber meinte es auch so. Bevor er etwas erwidern konnte, schloss sie das
Video-Fenster, drehte sich Richtung Bad, machte noch einmal kehrt und klappte den Laptop
doch ganz zu. Sie musste sich beeilen. Ohne Hilfe auf die Toilette war aktuell noch eine
längere Aktion und er sollte nicht denken, sie würde mehr entleeren als ihre Blase.
Obwohl sie unter Strom stand, genoss Lisa die paar Minuten im Bad. Die erste flüchtige
Trennung während eines ersten Dates war ein heiliger Moment für alle Beteiligten. Sie
erinnerte sich an viele Dates in vielen Bars. Lief es schlecht, dann bemitleidete man sich im
Spiegelbild. Aber lief es gut, war dieser kurze Moment mit sich selbst, ein errötetes
Abklatschen mit sich selbst, ein kurzes sich beruhigen, tief durchatmen, cool bleiben und mit
einem Lächeln wieder zurück in die Arena kehren. Dort wendete man sich mit wabbeligen
Knien wieder dem Menschen zu, der in der letzten 45 Minuten ein neues Universum vor
einem ausgebreitet hatte.
In Lisas Kopf stritten sich mehrere Gefühle miteinander. Euphorie über den Menschen,
dem sie zufällig aus Milliarden von Menschen begegnet war, gemischt mit
Verliebtheitshormonen, gemischt mit Schuldbewusstsein. Sie wollte nur ein bisschen flirten,
was war schon dabei? Bullshit, sagte die andere Stimme. Timo, der kleine Timo, ist es
vielleicht, aber wenn du jetzt nicht ehrlich bist, kann aus euch niemals etwas werden. Lisa
spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, sie war bereits zu lange weg. Der Tag hatte dem
Abend in der Zwischenzeit die Hand gegeben und als sie zurück zu ihrem Schreibtisch rollte,
machte sie sich ein Licht an. Von draußen drang das aufgekratzte Stimmengewirr zu ihnen
hoch, das jedem dieser wunderbaren, endlosen Berliner Sommernächte vorausgeht.
Als den Call wieder betrat, waren seine Augen direkt auf den Bildschirm geheftet, als
hätte er in der Zwischenzeit nichts anderes gemacht, als auf ihr Gesicht zu warten. Er lächelte
sie an und sie merkte, dass es bereits passiert war. Sie lächelte und unterdrückte den Impuls,
mit ihren Fingern sein Gesicht auf dem Bildschirm zu berühren. Sie waren ineinander
versunken.
«Du bist sehr schön», sagte er leise.
«Ich weiß».
Sie wollte nicht provozieren, sondern lediglich den Fakt so schnell wie möglich aus dem
Weg räumen. Ihm direkt zu sagen, dass sie wohl um ihre Schönheit wusste, würde ihn
hoffentlich davon abhalten, es erneut zu sagen. Sie war der Inbegriff von ästhetischer
Appetitlichkeit. Ihr Gesicht hatte eine perfekte Form, genau wie ihr zarter, perfekter Schädel,
dem die jungenhaften fünf Centimeter schmeichelten, denn sie konnte das tragen, es
brachte ihr Pfirsichgesicht nur noch mehr zur Geltung. Ihre Butterlippen waren voll und
geschwungen und luden ein, darin zu versinken, das wusste sie. Ihre kleine, spitze Nase und
die großen dunklen Augen ließen sie aussehen, wie ein junges Reh, das wusste sie. Ihr
Oberkörper war zierlich und unter ihrem Schlüsselbein konnte man die straffen Ansätze eines
ebenso vollen, jungen Dekolletés erahnen. All das kriegte er zu sehen, und es gefiel ihm. Das
wusste sie, wollte es aber nicht. Lisa war ungeschminkt, sie trug einen normalen
Rundausschnitt, sie hatte sich alle Mühe gegeben.
«Schönheit ist nicht alles». Sie rieb die schwitzigen Hände auf der Oberfläche ihres Beines
ab und wollte das Thema wechseln.
«Ist mir klar. Aber trotzdem. Ich könnte dich stundenlang ansehen.»
«Erzähl mir lieber noch mehr von deiner Schwester», erwidert sie eine Spur zu laut.
«Wann ist sie nach Australien ausgewandert? Die ist ja verrückt!» Sie schenkte sich nach.
Sie redeten über seine Schwester und ihren Mann, die in Melbourne wohnen und ein
Restaurant dort haben, sie reden über seine Nichten und ihre Geschwister, die in Bayern
wohnen. Es waren keine Datefragen mehr nötig, das Gespräch floss von ganz alleine. Fließen
war kein Wort dafür, es rauschte, gierig und genüsslich griff ein Satz nach dem nächsten und
sie konnten nicht genug davon kriegen, bis der Himmel draußen lachsfarben glänzte.
Sie trank immer weiter und er rauchte immer schneller und so hatten sie beide etwas,
woran sie sich festklammern konnten, während die Umrisse der Nacht und des großen
Ganzen um sie herum verschwanden.
«Ich glaub es ja nicht, die Sonne geht auf. » Er streckte sich ein wenig und zündete sich
noch eine Zigarette an. «Wir zwei, was?»
Lisa spürte keinen Hauch von Müdigkeit und wollte das Gespräch so lange wie möglich
hinauszögern, weil sie wusste, dass er sie treffen will nach diesem Rausch. Vielleicht würde
sie ihn noch auf einen weiteren Videocall vertrösten können, aber dann nicht noch einen,
das wäre albern. Das würde ihm auch nicht stehen, er war ein authentischer Mensch, der
den Dingen in die Augen sehen wollte. Sie waren keine Teenager mehr. Es wäre unlogisch,
sich jetzt nicht zu treffen.
«Hey!» Er rieb sich die Augen: «Ich will dich jetzt nicht überrumpeln, aber ich bin eh am
Wochenende in Berlin für eine Hochzeit. Vielleicht können wir uns zum Frühstück treffen?»
Lisa schwieg. Er fixierte sie mit seinem Blick und versuchte, ihre Zurückhaltung
einzuordnen.
«Vielleicht muss ich dich mal raus aus deiner aufgepeitschten Kreuzberg-Blase locken.
Hättest du Lust mit mir auf den Teufelsberg zu gehen?»
Lisa stellte sich vor, wie er versuchen würde, ihren Rollstuhl den tiefen, sandigen Weg
hinauf zum Teufelsberg zu hieven und erschauderte innerlich. Die Leute würden gucken, ihre
Hilfe anbieten, aufgeben und verlegen weitergehen. Niemals würde sie mit ihm zum
Teufelsberg fahren.
«Klingt gut. Ich liebe es, da hochzulaufen. Dieser Blick da oben, über den Wolken von
Berlin.» Sie legte das Kinn in die Hand und lächelte sein Bild an.
„Ja cool. Ich könnte dich sogar abholen, ich fahre mit meinem Motorrad hoch. Wollen wir
grob Samstagmittag anpeilen?»
«Ja super, ich freu mich»
«Ich freu mich auch auf dich, Li-sa.» Er sprach ihren Namen mit feierlichem Bedacht aus,
als wäre sie gerade erst zu einer realen Person geworden. „Schlaf gut und bis Samstag.»
«Du auch, bis Samstag!». Lisa hob noch einmal leicht die Hand zum Gruß und lächelte
matt. Sie war plötzlich todmüde. Sie verließ den Call, löschte ihren Chatverlauf, blockierte
sein Profil und entfernte den ganzen Menschen mit ein paar Klicks. Dann knipste sie das
Schreibtischlicht aus und rollte langsam Richtung Bad.
Der Chaoshaufen
Es beginnt alles mit einer Idee.
Ungläubig starrte sie durch einen verschmierten Tränenschleier auf die Scheiße zu ihren Füßen. In einer Nanosekunde dunkelroter Wut hatte sie die Schublade, die irgendwie klemmte, mit einer solchen Wucht aufreißen wollen, dass das gesamte Ding unter einem kurzen Knacken, das sich wie ein mehrfacher Knochenbruch anhörte, aus den Angeln gehoben und kopfüber auf ihrem gesamten Inhalt auf Maries Granitsteinboden, Typ „Azul Platino“ gelandet war. Wie war das überhaupt möglich? So rein kräftemäßig? Sie hob die malträtierte Schublade hoch und legte sie auf den Küchentisch. Ihr Inhalt lag nun einfach da, wie eine grobe Provokation, die ihren makellosen Küchenboden befleckte.
Was war zu tun? Den Chaoshaufen einfach so liegen lassen, das ging nicht, ihre Eltern würden nach der Veranstaltung noch auf ein Glas Sekt vorbeikommen, das ging wirklich nicht. Sie schniefte Rotze hoch, durch das Weinen hatte sich eine Spannung in ihrem Kopf gebildet, die nun schmerzhaft gegen ihre Stirn pochte.
Die Schublade lag dort – von innen nach außen wie nackte Organe, ihr kleinstädtisches, kleinmädchenhaftes, zartes Inneres, demütigend entblößt, ohne Haut und ohne Schutz.
Was davor geschah:
Samstag, 18:19 Uhr. Eine Uhrzeit, die in Maries Fall keine Entschuldigung zuließ. Sie war spät dran und alles war schlimm. Die Heulerei hatte ihr auch das Gehirn verschmiert und sie konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen, die sonst automatischen Handbewegungen mit Pinsel und Tusche funktionierten nicht, die Haare flogen, die Kopfhaut spannte, sie fühlte sich unwohl in dem enganliegenden Kleid und in ihrer eigenen Haut. Verbissen hatte sie die sich im Spiegelbild angeschaut, jetzt noch kurz durchhalten, diese eine Sache noch und dann wird man weitersehen. Sie war nach dem Streit und zwischen zwei unmöglichen Verpflichtungen auf der Suche nach der kleinen Nadel gewesen, mit der sie die SIM-Karte in ihr Ersatzhandy tun wollte, nachdem der Bildschirm ihres Ersthandys am Abend vorher auf dem Bordstein vor in 1000 Splitter zerborsten war. Im Streit. Sie wusste genau, dass sie diese Nadel in weiser Voraussicht einmal in die Schublade gelegt hatte, einen Ort, an dem man sie ganz gewiss wiederfinden würde. Genau für solche Fälle nämlich sollte die Nadel in der Schublade zu finden sein.
Marie stand regungslos vor dem Chaoshaufen und der Chaos-Anblick tat ihr in den müden Gin-Tonic-Augen weh. Wie sollte man hier irgendetwas finden? Wie hatte innerhalb dieser einen Schublade nur zu einem so perversen Ausmaß an Wahllosigkeit kommen können? Wer hatte bei einem Einzug bestimmt „hier kommt jetzt der ganze Scheiß rein, der hier so rumfliegt“? – Wer hatte dieses hirnrissige Gesetz geschrieben? Etwas hatte sich verändert, und Marie machte sich nun mit kämpferischer, fast belustigter Miene Gedanken zur Schublade als solche:
Die Schublade
Jeder kennt sie. Jeder hat eine. Die Schublade verkörperte, was in der Psychoanalyse wahrscheinlich der hinterlistige Teil des Eisbergs ist, der gerade so unter der Wasseroberfläche ist. Symbolisch verheißungs-, und in jeder Hinsicht verhängnisvoll. Eine Ansammlung von unsortierten Gedanken, die in die Schublade gestopft werden, um sie nicht weiter ergründen zu müssen. An einem sicher gewähnten Ort an dem kein Gast den Besteckkasten vermuten, dort niemals suchend und daher auch nie finden, aufmachen und entblößen würde. Zwischen dem Ofen und dem ausziehbaren Kühlschrank eingebettet, die oberste von fünf ihresgleichen, und schmaler als die Spalte von Schubladen, in der oben das Besteck, dann Pfannen und dann Töpfe waren. Sie war unscheinbar, doch sie war da. Ein Haufen, der in seiner Gesamtheit so nichtssagend war, dass man ihn lieber ganz ignorierte. Wie konnten aufrichtige Mitglieder dieser zivilisierten Gesellschaft, die ordentliche Erwachsenenleben führten eine Schublade verantworten, in der sich eine haarige Haarbürste, Aspirinkrümel, Quittungen, Münzen, die durch tausend Hände gewandert sind, nicht-versandte Post und eine ausgelaufene Horde uralter Gummibären berührten?
Die Schublade als die gegenwärtige Situation war durch eine Kette von kleinen willkürlichen Handlungen entstanden aber konnte in ihrer Gesamtheit, wie sie da so auf dem Boden lag, unmöglich als Ganzes wieder zurück in die Schublade befördert werden. Die Zusammenhangslosigkeit der Dinge war, nun dass man sie entlarvt hatte, vollkommen inakzeptabel.
Und wie sie diesen Haufen da so liegen war, kam ihr auf einmal alles unmöglich vor. Das beseitigen des Chaos: unmöglich. Der nächste soziale Auftritt: unmöglich. Die Arme oder Beine zu einer nächsten Bewegung zu animieren: unmöglich. Sie sackte an der Küchenzeile hinunter wie ein etwas Aufblasbares, dem die Luft ausgeht, spürte den kalten Boden und die erbarmungslose Schwerkraft unter sich und sackte leise schluchzend in sich zusammen. Die Minuten und Stunden vergingen und erst das penetrante Piepsen ihres Handys unterbrach die bleierne Stille in ihr drin und in der Küche.
Als Marie den Kopf hoch, hatte die Dämmerung sie schon gierig in Dunkelheit gehüllt. Sie wusste nicht, wieviel Zeit verstrichen war, ihre Füße waren taub geworden und auch ihre Pobacken auf dem kalten Boden spürte sie nicht mehr. Sie starrte so lange auf den Schubladen-Chaoshaufen, wie er so unbeholfen vor ihr im Halbdunkeln lag, und mit der Zeit verstrich auch die Anspannung, die in jeder Körperfaser hing, und ihr Blick bekam etwas Zärtliches.
Marie stand auf, riss die Riemchen der Schuhe auf, die achtlos irgendwo liegenblieben, holte sich ein paar dicke Socken aus dem Schrank im gemeinsamen Schlafzimmer und kehrte mit einer Flasche Rotwein in der Hand, die noch vom Vorabend auf der Anrichte stand, an ihren Platz neben dem Chaoshaufen zurück. Sie setzte sich wieder hin und spürte, wie die Wärme langsam in ihren Körper zurückkehrte.
Von David, dem Betrüger, kam:
19:24: „Es tut mir leid.“
19:57: „Alles tut mir leid.“
20:31: „Ich weiß, dass Du da heute hin musst, ich will Dir das nicht versauen. Wir können später alles klären, ja?“
21:46: „Marie, geht´s Dir gut?“
Von der Unsäglichen, die sie geboren hat, kam:
19:34: „Wo bist Du???“
19:35: „Wir stehen am Eingang- wieso bist Du nicht hier?“
19:39: „Wieso kommst Du an einem Abend zu spät, der für deinen Vater so wichtig ist??????“
19:47: „Marie??????“
19:54: „Marie, Du bist unmöglich!!!!!!“
19:59: „wir gehen jetzt rein“
Woher war nicht klar, aber aus den Tiefen ihres Bauches löste sich mit einem Mal ein Lachen, ein Prusten, erst ein Gluckern, das rollte und gurgelte, dann kam es höher, zuckend, wurde heller, klarer, und tönte schließlich in voller Pracht und Lautstärke einer Sonate gleich aus ihr heraus. Marie lachte und lachte und lachte, ihr ganzer Körper vibrierte und sie schüttelte sich mit Tränen in den Augen.
Sie lachte ausdauernd und unermüdlich und ihr Gelächter war nicht mehr hysterisch, sondern bekam Charakter, reifte mit der Zeit, vollmundig, rund, und von allem befreiend. Ein Lachen das es gut mit einem meint. Marie blieb noch viele Stunden vor dem Chaoshaufen sitzen, wachend.
Weltlärm
Es beginnt alles mit einer Idee.
“Das Kind ist schon wieder tot”
“Welches Kind?”
“Das ungeborene Kind deiner Schwester” Sandras Stimme wird schrill.
“Oh ne. Das sind aber schlechte Nachrichten. Möchtest Du auch ein Brot?”
Stefan pult eine Scheibe Roggen-Vollkorn aus der Plastikverpackung und schiebt es in den Toaster-Schlitz, wobei es zerbricht und ein paar Krümel für alle Ewigkeit darin verschwinden.
Stille
Die klingt, als würde Sandra von außen gegen eine Milchglasglocke hämmern. Stefan, den sie seit 12 Jahren liebt, hört sie darunter nicht. (Erzähler: Das verhält sich seit Längerem so).
Ein eisiger Zug pfeift durch die Küche ihrer gemeinsamen Erdgeschosswohnung in Berlin Pankow. Die Dunkelheit des Februars grüßt am frühen Montagmorgen.
“Sag halt was!” Sandra steht im Raum wie ein Fremdkörper und Unglauben ergießt sich über ihr rotes Gesicht. “Du bist fucked up” flüstert sie ohne Fassung. Einen Moment lang verharrt sie ohnmächtig. Dann weicht das Leben aus ihrem Körper wie die Luft aus einem Luftballon. Und wie ein Luftballon nach einer kurzen, verzweifelten Umdrehung beim Luftlassen hilflos der Schwerkraft folgt, sackt auch Sandra an Ort und Stelle in sich zusammen. Kauert am Boden, nackte Knie auf kaltem Linoleum, das Nachthemd verrutscht.
“Ich liebe Dich nicht mehr.” Sandra feuert messerscharfe Blicke. Ihre Augen kämpfen last man standing während der körperliche Kontrollverlust anhält. Eine Folge von 21 Buchstaben, durch 4 Leerzeichen in ungleichmäßig lange Stücke zerhackt - Die Worte ergeben für Stefan keinen Sinn. Nicht, dass er Sinn darin gesucht hätte, er geht stattdessen seinen Investoren-Pitch ein letztes Mal im Kopf durch. Nun liegt dieser Buchstafenhaufen geradezu konfrontativ vor ihm. Das verärgert ihn leicht, denn: Er möchte nicht.
Stefan trinkt sein Heißgetränk in schnellen Schlucken. Dann Schweigen, lang und schwer. Das Mädchen auf dem Boden starrt ohnmächtig ins Leere. Tränen tropfen vom Kinn auf den Nachthemd-Saum und laufen langsam über Gänsehaut. Als das Toast hochspringt, schrecken beide zusammen. Stefan streicht erst Butter, dann dick Rapshonig darauf.
“Der Blütenhonig ist fast alle.” antwortet er. Die Gedanken sind bei der Software und es folgt dickflüssig noch mehr Stille.
“Seit dem Unfall finde ich dich nicht mehr. Ich bin so einsam, Stefan.“
Beim Klang seines Vornamens hebt er den Blick vom Brot. Aus seinem vollen Mund stolpert:
“Oh ne. Das ist nicht gut.”
Und nach einer Pause: “Heute ist ein wichtiger Tag für Rundum Sorglos. Ich kann jetzt nicht.
“Jeder Tag ist ein wichtiger Tag für dein scheiß Startup. Du kannst nie.”
Es fällt ihm nichts ein, was man erwidern könnte. Eine kleine Stimme pocht in ihm, die lieb sein und alles in Ordnung bringen will. Doch die Stimme ist so weit weg und schwach und so schaut er schweigend auf seinen Honigbrotteller, wo er von seinem Software-Imperium träumt.
“Ich bin so unglücklich.” piepst es von da unten aus der Mitte des Raumes.
“Oh ne. Huch, es ist ja schon viertel vor. Ich nehm das einfach auf die Hand mit.” Ein Messer in den Bauch gerammt, klappt das Honigbrot jetzt wie Sandra zuvor in der Mitte zusammen. Da seine Lebensabschnittspartnerin nicht wie sonst am Frühstückstisch sitzt, sondern auf dem Boden hockt, küsst Stefan sie nicht wie gewohnt auf die Stirn, sondern wedelt, den Weltuntergang zu seinen Füßen komplett ignorierend, einen Luftkuss in ihre Richtung.
“Ich kann so nicht.” sie hebt die Lanze zum letzten Stoß.
“Ich treffe jetzt die Investoren.” entgegnet er, lässt seine Freundin auf dem Küchenboden sitzen und verlässt die Wohnung ohne sich noch einmal umzudrehen. (Erzähler: Schön ist das nicht.)
Stefan Schraut wähnte sich in diesem Winter zum ersten Mal wichtig. Während seiner Ausbildung zum Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung: ein Niemand ohne einen Cent in der Tasche und nie eine Frau im Bett. Bis Sandra kam. Sie liebte Stefan ohne Grund. Er war ein Nerd wie er im Buche steht, blass mit Kartoffelnase. Eine soziale Katastrophe. Im Programmieren talentiert aber leider nie im richtigen Moment am richtigen Ort. Versagen prägte seine Kindheit und Jugend. Bis vor drei Jahren mittelmäßiger Programmierer und in der Digitalindustrie einer unter Millionen. Mit dem Umzug wandte sich das Blatt. Im Start-Up Berlin der 2000er Jahre träumte er von “Held der neuen Gründerzeit”. Rundum Sorglos war Stefans erste Idee mit richtig Marktpotenzial. “Mit Rundum Sorglos können Sie Belastung durch unerwünschte Informationen vermeiden” spricht Stefan jetzt in den Rückspiegel seines Autos. Mit Informationen meint er Nachrichten. Das Tagesgeschehen. Die News. Eine vom Technologiemarkt unausgeschlachtete Tatsache war, dass Normalmenschen gerne das Tagesgeschehen verfolgen, jedoch auf die Flut von bad news keine Lust haben. Um dieses Paradox kümmert sich die Software, indem sie schlechte Nachrichten tout simplement abblockt. (Erzähler: Also jetzt mal entre nous, zwischen Ihnen, dem Leser und mir, dem Erzähler - meint der das ernst??).
Stefan selbst betrafen schlechte Nachrichten nicht. Dafür hatte er sich im Alter von 5 Jahren bewusst entschieden, nachdem die Leiche seines Vaters in einem Flugzeug verbrannt war. Menschen, die unter schlechten Nachrichten litten, empfahl Stefan dafür seine Software.
Die Hauptstadt kommt an diesem Morgen nur widerwillig in die Gänge. Dass Berlin sich heute von seiner grausten Seite zeigt, spielt Stefan in die Hände. Nach Monaten der eisigen Dunkelheit waren die Menschen hungrig nach allem, was ein bisschen Hoffnung verspricht. Diese Nachfrage war, was das Potenzial seiner Software anging, des Pudels Kern. Angekommen in der Altbauwohnung, 1. Stock, Berlin Mitte, blickt Stefan prüfend in drei müde Investorenaugenpaare. Eine Rothaarige, die Strenge vortäuscht, ein Dicker mit viel Emotionen an der Backe, ein Älterer mit Quadratbrille im Quadratgesicht - Typ no life in der work/life-balance. Stefan lächelt: Das wird ein Kinderspiel. Erwartung an ihn gemischt mit allgemeiner Montagmorgen-Unmut füllt den Raum wie eine Nebelmaschine. Kaffeedampf hängt in der Luft. Hier und da klickt ein Kugelschreiber.
“Guten Morgen, sehr geehrte Damen und Herren. Vielen Dank für Ihre Zeit. Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich.“
“Herzlich Willkommen bei Dynamo-Invest, Herr Schraut. Dann legen Sie mal los.”
Stefan holt tief Luft und setzte sein dynamischstes Gesicht auf.
“Über unsere mobilen Geräte erreicht uns eine Schreckensnachricht nach der anderen. Gewaltverbrechen im häuslichen Bereich, Korruption und Diktatur, Naturkatastrophen und Krieg mit Chemiewaffen sind nur wenige Beispiele aus dem wechselnden Horror-Sortiment. Ein Hagel von Negativität, der da tagein tagaus auf einen einprasselt und man kann nichts dagegen tun.” Stefan senkte die Stimme etwas, um die Spannung zu steigern.
“Jetzt einmal Hand aufs Herz, fühlen Sie sich auch geradezu belästigt von der niemals endenden Katastrophenflut? Dass Sie wissen müssen, dass die Israelis schon wieder ein palästinensischen Jungen erschossen haben, obwohl Sie finden, dass das überhaupt nicht in Ordnung ist? Dass Die CO2 Geschichte sich stetig verschlechtert, obwohl Sie seit 2014 ausnahmslos auf Bio Putenfleisch umgestiegen sind? Dass das Lese-, und Rechtschreib-Niveau an der Grundschule ihrer Wahl quasi nicht existiert, obwohl ihr Kind oder Enkelkind (Nicken zum Alten) nächsten Sommer eingeschult wird?” Stille ob des gewagten Einstiegs. Stefan kennt sie an dieser Stelle und so irritiert sie ihn nicht. Im Gegenteil. “Haben Sie manchmal einen richtig guten Tag, und dann kommt da ein Video von einem blutüberströmten Kind in Aleppo vorbei, und Sie denken: “Ne. Ich möchte das jetzt einfach nicht.” Es klickt kein Kugelschreiber.
“Haben Sie auch die Angst, dass es einfach alles immer schlimmer wird und Sie aus dem Gefühl von permanentem Kontrollverlust und Lähmung nie mehr herauskommen?”
Stefan sieht in den Gesichtern Lichter angehen.
“Und fragen Sie sich auch: Kann ich das alles nicht einfach mal radikal abwehren, ohne als Aussteiger “Off-Grid” in einem Wohnwagen auf einer Waldwiese zu leben? Kann ich aus diesem Teufelskreis ausbrechen, ohne dabei “dabei” zu bleiben? Kann ich mich nicht endlich nur einmal in Ruhe auf mich konzentrieren ohne dabei den unaufhörlichen Weltlärm ertragen zu müssen?” Da hörte man leise aber deutlich. Ein Geräusch, das Zustimmung ausdrückt. Stefan schaut tief in jedes Augenpaar und erntet zustimmendes Nicken allerseits.
“Ich kann Ihnen helfen.” Stefan sagt Ihnen obwohl es ja nicht um die Investoren persönlich, sondern um die Endnutzer seines Produktes geht. Doch das spielt keine Rolle, weil er weiß, dass seine Zuhörer bereits auf konturlosen Gedankenwölkchen davongeschwebt waren, auf denen sie ihre jeweiligen trivialen Promlemchen ausbrüteten. Am Ende des Tages tönte immer nur das eigene kleine Ego.
“Rundum Sorglos ist Ihre Rettung. Sie können damit selbst entscheiden, was Sie von der Welt mitbekommen wollen und was nicht. Basierend auf Ihren persönlichen Wünschen und Vorstellungen filtert die Software Informationen heraus, die sie nicht empfangen wollen. Eine Firewall für schlechte Nachrichten, die alle Kanäle überwacht. Keine unnötige Belastung mehr. (Erzähler: WOW...!) Sie wirkt wie Lärm abschirmende Kopfhörer für Ihren Geist und Verstand. Diese Software sorgt dafür, dass Sie sorglos durch den Alltag gehen.“
“Greifen Sie da nicht etwas übermütig in das System Mensch ein?” Die Rothaarige meldet sich zu Wort und legt die Stirn kunstvoll in Falten. Stefan greift in die Akademikerkiste:
“In dem Aufsatz Großstadt und das Geistesleben hat der Soziologe Georg Simmel beschrieben, wie der moderne Mensch in der Großstadt auf Überstimulation reagiert: Mit Abschalten zum Selbstschutz nämlich. Das ist eine natürliche Reaktion, in die wir verfallen müssen, wenn wir überfordert sind. Auf meine Software sind wir Menschen evolutionsbiologisch vorprogrammiert!”
“Was passiert denn, wenn keiner mehr schlechte Nachrichten hört?”, die Rothaarige bleibt dran.
“Es ist ja nicht so, als würden die Katastrophennachrichten ins Handlungsbewusstsein eingreifen und Menschen dazu bringen, ihr fehlerhaftes Verhalten zu ändern. Nachrichten über Plastik in Vögel Bäuchen oder über angezündete Obdachlose haben Null Effekt. Die einzig nachweisbare Konsequenz ist kognitive Abstumpfung. Abstumpfung führt zu Empathielosigkeit und Handlungsunfähigkeit. Handlungsunfähigkeit ist schlecht für die deutsche Wirtschaft.”
“Woher weiß die Software, was ich nicht wissen will?”, fragt das Quadratgesicht pragmatisch.
“Sie brauchen nur 40 Fragen beantworten, die ihre Einstellung in den Bereichen Weltgeschehen, Familienpolitik, Umwelt, Technik, usw. Analysieren. Die Software stellt dann ein auf Sie maßgeschneidertes Wahrheit Wunschpaket zusammen.“
Angesichts des menschlichen Verlangens, das Stefan in seinen Zuhörern auflodern sieht, überkommt ihn ein Gefühl, das Geilheit sehr nahekommt.
“Die Welt” - an dieser Stelle legt er eine längere Kunstpause ein. Die drei halten den Atem an.
“...wird sich nach Ihren Wünschen gestalten.” Dieser Teil der Präsentation ähnelt einem Südstaaten-Gospel. Es fehlt nur noch, dass die Zuhörer sich zu Stefans Stimme im Takt hin und her wiegen. Die Menge war ihm ins Netz gegangen.
“Sie können das Paket auf ihrem Smartphone, Laptop und allen mobilen Geräten gleichzeitig verwenden. Für 19.99 monatlich oder im Jahres Abo.” Stefan plapperte weiter. Welche Zahlen er nennt spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Er hat die vier unwiderruflich verzaubert.
“Schlechte Nachrichten kann man nicht einfach abstellen!” die Rothaarige zum Dritten.
“Finde ich super, dass Sie aufkommende Bedenken ansprechen.” Stefan nickt zustimmend.
“Wieso eigentlich nicht? Denken Sie einmal in Ruhe darüber nach und diskutieren Sie doch darüber während ich mir einen Kaffee hole. Sollte unter Ihnen Interesse an einem kostenlosen Test der Software bestehen, liegen dort ein paar Fragebögen.”
Mit diesem letzten Teil seiner Performance lässt er sie in dem Glauben, sie seien selbstbestimmt. Auch wenn der menschliche Verstand stark tat, hinkt das Fleisch immer schwach hinterher. Pro forma Einspruch gegen seinen Urknall von Technologiezauber gab es immer und wurde stets von ihm belächelt. Als Stefan 15 Minuten später den Raum betritt, empfängt ihn andächtiges Schweigen. Wie Grundschüler haben alle ihre Fragebögen brav ausgefüllt und zappeln sogar ein wenig auf ihren Sitzen herum.
“Ich muss sagen,” der Dicke räuspert sich, ich bin begeistert.“ Und als ob das nicht genug wäre, beklatschen sie ihn wie einen Popstar. Stefan lacht übertrieben in die fremden Gesichter seiner angeworbenen Jünger und findet dort Bewunderung und Sehnsucht. Ihm ist bewusst, dass es so aussieht, als würde er Gott spielen wollen. Und er tut es auch. Und es klappt wunderbar.
“Begeistert!” wiederholt der Dicke noch einmal laut. Stefan verbeugt sich wie ein Clown auf der Bühne. In diesem Moment vibriert sein Handy in der Hosentasche. WhatsApp von Sandra:
“Es ist aus. Ich bin bei meiner Schwester. Bitte kontaktiere mich nicht.”
Stefan verbeugt sich abermals tief unter tosendem Applaus.