Weltlärm

“Das Kind ist schon wieder tot”

“Welches Kind?”

“Das ungeborene Kind deiner Schwester” Sandras Stimme wird schrill.

“Oh ne. Das sind aber schlechte Nachrichten. Möchtest Du auch ein Brot?” 

Stefan pult eine Scheibe Roggen-Vollkorn aus der Plastikverpackung und schiebt es in den Toaster-Schlitz, wobei es zerbricht und ein paar Krümel für alle Ewigkeit darin verschwinden. 

Stille

Die klingt, als würde Sandra von außen gegen eine Milchglasglocke hämmern. Stefan, den sie seit 12 Jahren liebt, hört sie darunter nicht. (Erzähler: Das verhält sich seit Längerem so).  

Ein eisiger Zug pfeift durch die Küche ihrer gemeinsamen Erdgeschosswohnung in Berlin Pankow. Die Dunkelheit des Februars grüßt am frühen Montagmorgen. 

“Sag halt was!” Sandra steht im Raum wie ein Fremdkörper und Unglauben ergießt sich über ihr rotes Gesicht. “Du bist fucked up” flüstert sie ohne Fassung.  Einen Moment lang verharrt sie ohnmächtig. Dann weicht das Leben aus ihrem Körper wie die Luft aus einem Luftballon. Und wie ein Luftballon nach einer kurzen, verzweifelten Umdrehung beim Luftlassen hilflos der Schwerkraft folgt, sackt auch Sandra an Ort und Stelle in sich zusammen. Kauert am Boden, nackte Knie auf kaltem Linoleum, das Nachthemd verrutscht. 

“Ich liebe Dich nicht mehr.”  Sandra feuert messerscharfe Blicke. Ihre Augen kämpfen last man standing während der körperliche Kontrollverlust anhält. Eine Folge von 21 Buchstaben, durch 4 Leerzeichen in ungleichmäßig lange Stücke zerhackt - Die Worte ergeben für Stefan keinen Sinn. Nicht, dass er Sinn darin gesucht hätte, er geht stattdessen seinen Investoren-Pitch ein letztes Mal im Kopf durch. Nun liegt dieser Buchstafenhaufen geradezu konfrontativ vor ihm. Das verärgert ihn leicht, denn: Er möchte nicht. 

Stefan trinkt sein Heißgetränk in schnellen Schlucken. Dann Schweigen, lang und schwer. Das Mädchen auf dem Boden starrt ohnmächtig ins Leere. Tränen tropfen vom Kinn auf den Nachthemd-Saum und laufen langsam über Gänsehaut. Als das Toast hochspringt, schrecken beide zusammen. Stefan streicht erst Butter, dann dick Rapshonig darauf.  

“Der Blütenhonig ist fast alle.” antwortet er. Die Gedanken sind bei der Software und es folgt dickflüssig noch mehr Stille. 

“Seit dem Unfall finde ich dich nicht mehr. Ich bin so einsam, Stefan.“

Beim Klang seines Vornamens hebt er den Blick vom Brot. Aus seinem vollen Mund stolpert:

“Oh ne. Das ist nicht gut.” 

Und nach einer Pause: “Heute ist ein wichtiger Tag für Rundum Sorglos. Ich kann jetzt nicht. 

“Jeder Tag ist ein wichtiger Tag für dein scheiß Startup. Du kannst nie.”

Es fällt ihm nichts ein, was man erwidern könnte. Eine kleine Stimme pocht in ihm, die lieb sein und alles in Ordnung bringen will. Doch die Stimme ist so weit weg und schwach und so schaut er schweigend auf seinen Honigbrotteller, wo er von seinem Software-Imperium träumt. 

“Ich bin so unglücklich.” piepst es von da unten aus der Mitte des Raumes.

“Oh ne. Huch, es ist ja schon viertel vor. Ich nehm das einfach auf die Hand mit.” Ein Messer in den Bauch gerammt, klappt das Honigbrot jetzt wie Sandra zuvor in der Mitte zusammen. Da seine Lebensabschnittspartnerin nicht wie sonst am Frühstückstisch sitzt, sondern auf dem Boden hockt, küsst Stefan sie nicht wie gewohnt auf die Stirn, sondern wedelt, den Weltuntergang zu seinen Füßen komplett ignorierend, einen Luftkuss in ihre Richtung. 

“Ich kann so nicht.” sie hebt die Lanze zum letzten Stoß.

“Ich treffe jetzt die Investoren.” entgegnet er, lässt seine Freundin auf dem Küchenboden sitzen und verlässt die Wohnung ohne sich noch einmal umzudrehen. (Erzähler: Schön ist das nicht.)

Stefan Schraut wähnte sich in diesem Winter zum ersten Mal wichtig. Während seiner Ausbildung zum Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung: ein Niemand ohne einen Cent in der Tasche und nie eine Frau im Bett. Bis Sandra kam. Sie liebte Stefan ohne Grund. Er war ein Nerd wie er im Buche steht, blass mit Kartoffelnase. Eine soziale Katastrophe. Im Programmieren talentiert aber leider nie im richtigen Moment am richtigen Ort. Versagen prägte seine Kindheit und Jugend. Bis vor drei Jahren mittelmäßiger Programmierer und in der Digitalindustrie einer unter Millionen. Mit dem Umzug wandte sich das Blatt. Im Start-Up Berlin der 2000er Jahre träumte er von “Held der neuen Gründerzeit”.  Rundum Sorglos war Stefans erste Idee mit richtig Marktpotenzial. “Mit Rundum Sorglos können Sie Belastung durch unerwünschte Informationen vermeiden” spricht Stefan jetzt in den Rückspiegel seines Autos. Mit Informationen meint er Nachrichten. Das Tagesgeschehen. Die News. Eine vom Technologiemarkt unausgeschlachtete Tatsache war, dass Normalmenschen gerne das Tagesgeschehen verfolgen, jedoch auf die Flut von bad news keine Lust haben. Um dieses Paradox kümmert sich die Software, indem sie schlechte Nachrichten tout simplement abblockt. (Erzähler: Also jetzt mal entre nous, zwischen Ihnen, dem Leser und mir, dem Erzähler - meint der das ernst??). 

Stefan selbst betrafen schlechte Nachrichten nicht. Dafür hatte er sich im Alter von 5 Jahren bewusst entschieden, nachdem die Leiche seines Vaters in einem Flugzeug verbrannt war. Menschen, die unter schlechten Nachrichten litten, empfahl Stefan dafür seine Software.

Die Hauptstadt kommt an diesem Morgen nur widerwillig in die Gänge. Dass Berlin sich heute von seiner grausten Seite zeigt, spielt Stefan in die Hände. Nach Monaten der eisigen Dunkelheit waren die Menschen hungrig nach allem, was ein bisschen Hoffnung verspricht. Diese Nachfrage war, was das Potenzial seiner Software anging, des Pudels Kern. Angekommen in der Altbauwohnung, 1. Stock, Berlin Mitte, blickt Stefan prüfend in drei müde Investorenaugenpaare. Eine Rothaarige, die Strenge vortäuscht, ein Dicker mit viel Emotionen an der Backe, ein Älterer mit Quadratbrille im Quadratgesicht - Typ no life in der work/life-balance. Stefan lächelt: Das wird ein Kinderspiel. Erwartung an ihn gemischt mit allgemeiner Montagmorgen-Unmut füllt den Raum wie eine Nebelmaschine. Kaffeedampf hängt in der Luft. Hier und da klickt ein Kugelschreiber. 

“Guten Morgen, sehr geehrte Damen und Herren. Vielen Dank für Ihre Zeit. Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich.“

“Herzlich Willkommen bei Dynamo-Invest, Herr Schraut. Dann legen Sie mal los.”

Stefan holt tief Luft und setzte sein dynamischstes Gesicht auf.

“Über unsere mobilen Geräte erreicht uns eine Schreckensnachricht nach der anderen. Gewaltverbrechen im häuslichen Bereich, Korruption und Diktatur, Naturkatastrophen und Krieg mit Chemiewaffen sind nur wenige Beispiele aus dem wechselnden Horror-Sortiment.  Ein Hagel von Negativität, der da tagein tagaus auf einen einprasselt und man kann nichts dagegen tun.” Stefan senkte die Stimme etwas, um die Spannung zu steigern. 

“Jetzt einmal Hand aufs Herz, fühlen Sie sich auch geradezu belästigt von der niemals endenden Katastrophenflut? Dass Sie wissen müssen, dass die Israelis schon wieder ein palästinensischen Jungen erschossen haben, obwohl Sie finden, dass das überhaupt nicht in Ordnung ist? Dass Die CO2 Geschichte sich stetig verschlechtert, obwohl Sie seit 2014 ausnahmslos auf Bio Putenfleisch umgestiegen sind? Dass das Lese-, und Rechtschreib-Niveau an der Grundschule ihrer Wahl quasi nicht existiert, obwohl ihr Kind oder Enkelkind (Nicken zum Alten) nächsten Sommer eingeschult wird?” Stille ob des gewagten Einstiegs. Stefan kennt sie an dieser Stelle und so irritiert sie ihn nicht. Im Gegenteil.  “Haben Sie manchmal einen richtig guten Tag, und dann kommt da ein Video von einem blutüberströmten Kind in Aleppo vorbei, und Sie denken: “Ne. Ich möchte das jetzt einfach nicht.” Es klickt kein Kugelschreiber.

“Haben Sie auch die Angst, dass es einfach alles immer schlimmer wird und Sie aus dem Gefühl von permanentem Kontrollverlust und Lähmung nie mehr herauskommen?”

Stefan sieht in den Gesichtern Lichter angehen.


“Und fragen Sie sich auch: Kann ich das alles nicht einfach mal radikal abwehren, ohne als Aussteiger “Off-Grid” in einem Wohnwagen auf einer Waldwiese zu leben? Kann ich aus diesem Teufelskreis ausbrechen, ohne dabei “dabei” zu bleiben?  Kann ich mich nicht endlich nur einmal in Ruhe auf mich konzentrieren ohne dabei den unaufhörlichen Weltlärm ertragen zu müssen?” Da hörte man leise aber deutlich. Ein Geräusch, das Zustimmung ausdrückt. Stefan schaut tief in jedes Augenpaar und erntet zustimmendes Nicken allerseits. 

“Ich kann Ihnen helfen.” Stefan sagt Ihnen obwohl es ja nicht um die Investoren persönlich, sondern um die Endnutzer seines Produktes geht. Doch das spielt keine Rolle, weil er weiß, dass seine Zuhörer bereits auf konturlosen Gedankenwölkchen davongeschwebt waren, auf denen sie ihre jeweiligen trivialen Promlemchen ausbrüteten. Am Ende des Tages tönte immer nur das eigene kleine Ego. 

Rundum Sorglos ist Ihre Rettung. Sie können damit selbst entscheiden, was Sie von der Welt mitbekommen wollen und was nicht. Basierend auf Ihren persönlichen Wünschen und Vorstellungen filtert die Software Informationen heraus, die sie nicht empfangen wollen. Eine Firewall für schlechte Nachrichten, die alle Kanäle überwacht. Keine unnötige Belastung mehr.  (Erzähler: WOW...!) Sie wirkt wie Lärm abschirmende Kopfhörer für Ihren Geist und Verstand. Diese Software sorgt dafür, dass Sie sorglos durch den Alltag gehen.“

“Greifen Sie da nicht etwas übermütig in das System Mensch ein?” Die Rothaarige meldet sich zu Wort und legt die Stirn kunstvoll in Falten. Stefan greift in die Akademikerkiste:

“In dem Aufsatz Großstadt und das Geistesleben hat der Soziologe Georg Simmel beschrieben, wie der moderne Mensch in der Großstadt auf Überstimulation reagiert: Mit Abschalten zum Selbstschutz nämlich. Das ist eine natürliche Reaktion, in die wir verfallen müssen, wenn wir überfordert sind. Auf meine Software sind wir Menschen evolutionsbiologisch vorprogrammiert!”

“Was passiert denn, wenn keiner mehr schlechte Nachrichten hört?”, die Rothaarige bleibt dran.

“Es ist ja nicht so, als würden die Katastrophennachrichten ins Handlungsbewusstsein eingreifen und Menschen dazu bringen, ihr fehlerhaftes Verhalten zu ändern. Nachrichten über Plastik in Vögel Bäuchen oder über angezündete Obdachlose haben Null Effekt. Die einzig nachweisbare Konsequenz ist kognitive Abstumpfung. Abstumpfung führt zu Empathielosigkeit und Handlungsunfähigkeit. Handlungsunfähigkeit ist schlecht für die deutsche Wirtschaft.”

“Woher weiß die Software, was ich nicht wissen will?”, fragt das Quadratgesicht pragmatisch.

“Sie brauchen nur 40 Fragen beantworten, die ihre Einstellung in den Bereichen Weltgeschehen, Familienpolitik, Umwelt, Technik, usw. Analysieren. Die Software stellt dann ein auf Sie maßgeschneidertes Wahrheit Wunschpaket zusammen.“ 

Angesichts des menschlichen Verlangens, das Stefan in seinen Zuhörern auflodern sieht, überkommt ihn ein Gefühl, das Geilheit sehr nahekommt.

“Die Welt” - an dieser Stelle legt er eine längere Kunstpause ein. Die drei halten den Atem an.

“...wird sich nach Ihren Wünschen gestalten.” Dieser Teil der Präsentation ähnelt einem Südstaaten-Gospel. Es fehlt nur noch, dass die Zuhörer sich zu Stefans Stimme im Takt hin und her wiegen. Die Menge war ihm ins Netz gegangen. 

“Sie können das Paket auf ihrem Smartphone, Laptop und allen mobilen Geräten gleichzeitig verwenden. Für 19.99 monatlich oder im Jahres Abo.” Stefan plapperte weiter. Welche Zahlen er nennt spielt zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Er hat die vier unwiderruflich verzaubert.

“Schlechte Nachrichten kann man nicht einfach abstellen!” die Rothaarige zum Dritten.

“Finde ich super, dass Sie aufkommende Bedenken ansprechen.” Stefan nickt zustimmend.

“Wieso eigentlich nicht? Denken Sie einmal in Ruhe darüber nach und diskutieren Sie doch darüber während ich mir einen Kaffee hole. Sollte unter Ihnen Interesse an einem kostenlosen Test der Software bestehen, liegen dort ein paar Fragebögen.” 

Mit diesem letzten Teil seiner Performance lässt er sie in dem Glauben, sie seien selbstbestimmt. Auch wenn der menschliche Verstand stark tat, hinkt das Fleisch immer schwach hinterher. Pro forma Einspruch gegen seinen Urknall von Technologiezauber gab es immer und wurde stets von ihm belächelt. Als Stefan 15 Minuten später den Raum betritt, empfängt ihn andächtiges Schweigen. Wie Grundschüler haben alle ihre Fragebögen brav ausgefüllt und zappeln sogar ein wenig auf ihren Sitzen herum. 

“Ich muss sagen,” der Dicke räuspert sich, ich bin begeistert.“ Und als ob das nicht genug wäre, beklatschen sie ihn wie einen Popstar. Stefan lacht übertrieben in die fremden Gesichter seiner angeworbenen Jünger und findet dort Bewunderung und Sehnsucht. Ihm ist bewusst, dass es so aussieht, als würde er Gott spielen wollen. Und er tut es auch. Und es klappt wunderbar.

“Begeistert!” wiederholt der Dicke noch einmal laut. Stefan verbeugt sich wie ein Clown auf der Bühne. In diesem Moment vibriert sein Handy in der Hosentasche. WhatsApp von Sandra: 

“Es ist aus. Ich bin bei meiner Schwester. Bitte kontaktiere mich nicht.”

Stefan verbeugt sich abermals tief unter tosendem Applaus.

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Der Chaoshaufen